Wenn der Berg kommt – Die dramatischsten Felsstürze der Schweiz und was wir daraus lernen können
- Patrick
- vor 5 Tagen
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Die Berge der Schweiz sind majestätisch, stolz – und manchmal tödlich. In einer Landschaft, die von Eis, Wasser und Zeit geformt wurde, birgt jeder Gipfel auch die Möglichkeit der Katastrophe. Felsstürze und Bergstürze sind nicht nur spektakuläre Naturereignisse, sie sind Teil der geologischen DNA der Alpen. Immer wieder bricht sich die Urgewalt Bahn – in der Vergangenheit mit tragischen Verlusten, in der Gegenwart mit neuen Herausforderungen, im Kontext eines sich verändernden Klimas.

Die Alpen: Eine Bühne der Bewegungen
Was auf den ersten Blick wie ewige Stabilität aussieht, ist in Wahrheit ein sensibles Gleichgewicht. Die Alpen sind jung, geologisch gesehen. Sie wachsen, arbeiten, reiben – und manchmal brechen sie. Unter der Oberfläche wirken Kräfte, die niemand aufhalten kann: Wasser dringt in Ritzen, gefriert, sprengt das Gestein. Gletschereis zieht sich zurück, nimmt den Druck von instabilen Hängen. Der Permafrost, der „Zement der Berge“, taut – und ganze Felswände verlieren ihren Halt.
Die größten Fels- und Bergstürze der Schweiz – eine Chronik der Katastrophen
Flimser Bergsturz (~7500 v. Chr.) – Der Urschrei der Alpen

Im schweizerischen Flims im Kanton Graubünden donnerte vor fast 12.000 Jahren ein gewaltiger Berg in die Tiefe. Es war der größte Bergsturz Europas – 12 Milliarden Kubikmeter Gestein lösten sich und begruben das Rheintal unter sich. Der Flimser Bergsturz ist damit das grösste Bergsturzereignis und weltweit einer der grössten derzeit bekannten Bergstürze überhaupt: rund 300 mal grösser als der Bergsturz von Goldau und rund 1200 mal grösser als der Bergsturz von Elm.
Keine Menschen kamen ums Leben – es gab sie schlicht noch nicht dort. Doch die Landschaft wurde für immer verändert. Die imposante Rheinschlucht, heute als Ruinaulta bekannt, entstand aus diesem Ereignis.
Ein ganzer Berg stürzte – und schuf eine der wildesten Schluchten Europas.
Plurs (1618) – Als ein Dorf vom Erdboden verschwand

Im Tal von Bregaglia, nahe Chiavenna, stand einst das stolze Dorf Plurs. Nach tagelangem Regen gaben die Hänge nach. Rund 1.000 Menschen wurden unter den Trümmern begraben. Am Abend des 4. September 1618 lösten sich drei bis vier Millionen Kubikmeter Gestein und begruben Plurs und das benachbarte Chilano unter sich. Die einstige Stadt ist heute nicht mehr auffindbar – sie wurde vollständig ausgelöscht.
Ein Ort, der vom Erdboden verschwindet – nicht durch Krieg, sondern durch den Berg selbst.
Goldau (1806) – Der Nagelfluh bricht

Am 2. September 1806 donnerte in Goldau, Kanton Schwyz, eine gewaltige Masse aus Nagelfluh-Gestein zu Tal. Der Berg Rossberg brach nach intensiven Regenfällen auseinander. 40 Millionen Kubikmeter Geröll rasten mit 120 km/h ins Tal, begruben vier Dörfer, rissen Menschen, Tiere, Wälder mit sich. 457 Menschen starben.
Ein Tsunami entstand im Lauerzersee, weitere Zerstörung folgte.
Die Schweiz erwachte an diesem Tag in einer neuen Zeit: der Zeit bewusster Naturgefahren.
Elm (1881) – Ein Berg, wirtschaftlich untergraben

Das Dorf Elm im Kanton Glarus wurde im 19. Jahrhundert durch Schieferabbau geprägt – und gleichzeitig geschwächt. Als 1881 Teile des Schiefers nicht mehr standhielten, rutschte der Hang ab und 10 Millionen Kubikmeter Fels begruben Elm unter sich. 114 Menschen verloren ihr Leben.
Ein Lehrstück darüber, wie menschliche Eingriffe die Natur ins Ungleichgewicht bringen können.
Fidaz (1939) – Der stille Tod

Ein kleineres, aber tragisches Ereignis: In Fidaz, bei Flims, stürzte ein Felssturz 100.000 m³ Material ins Tal und riss 18 Menschen, darunter Kinder, mit in den Tod. Der Boden hatte sich lautlos vorbereitet. Warnzeichen wurden nicht erkannt.
Die Gefahr ist oft nicht laut. Sie kommt schleichend, ohne Ankündigung.
Bondo (2017) – Die neue Realität der Berggefahren

Im Sommer 2017 beobachteten Forscher ungewöhnliche Bewegungen am Piz Cengalo. Dann stürzten 3 Millionen m³Fels, Eis und Geröll ins Tal, rissen alles mit – auch acht Wanderer, die nie wiedergefunden wurden.
Dank Frühwarnsystemen konnte das Dorf evakuiert werden. Doch der Schaden war immens.
Der Permafrost taut. Und mit ihm rutschen die Berge.
Brienz/Brinzauls (2023) – Wenn Technik Leben rettet

Das Dorf Brienz/Brinzauls wurde 2023 weltberühmt – nicht durch Zerstörung, sondern durch Prävention. Radarmessungen zeigten frühzeitig: Der Berg kommt. 2 Millionen m³ Material bewegten sich sichtbar.
Das Dorf wurde rechtzeitig evakuiert. Niemand kam zu Schaden. Ein Modellfall für moderne Naturgefahrenbewältigung.
Blatten (2025) – Ein Ereignis unserer Zeit

Der bislang letzte dokumentierte Felssturz in der Schweiz: Blatten im Wallis wurde im Frühling 2025 von einem Felssturz betroffen, ausgelöst vom Kleinen Nesthorn. 3,5 Millionen m³ Fels donnerten auf den Birchgletscher. Das Gesamtvolumen der Eis- und Gesteinsablagerungen am Talboden wurde auf rund 10 Millionen m3 geschätzt.
Eindrückliche Dokumentation des Felssturzes von Blatten:
Ein Mensch wird bis heute vermisst. 300 Einwohner mussten evakuiert werden. Der Fels veränderte das Tal – ein neuer See entstand, der Weg zur alten Hütte ist verschüttet.
Der Klimawandel schreibt seine Geschichten längst auch in die Landkarten.
Warum stürzen Berge?
Die Ursachen lassen sich meist in drei Kategorien einteilen:
Wasser: Regenfälle sättigen das Gestein, Frost sprengt Risse auf.
Geologie: Poröse Gesteinsarten wie Nagelfluh oder Schiefer sind instabil.
Klimawandel: Der auftauende Permafrost wirkt wie das Ziehen eines Fundamentsteins – der Hang verliert den Halt.
Was tun wir dagegen?
Die Schweiz ist heute eines der weltweit führenden Länder im Bereich der Naturgefahrenprävention. Dazu zählen:
Frühwarnsysteme: Radar, Drohnen, GPS-Messungen
Digitale Zwillinge: Simulationen von Hangbewegungen in Echtzeit
Evakuationspläne: Schnelle, koordinierte Reaktionen auf drohende Ereignisse
Öffentliche Sensibilisierung: Schulprojekte, Wanderwarnsysteme, Medien
Der nächste Bergsturz wird kommen. Die Frage ist nicht wann – sondern, ob wir vorbereitet sind.