Grundlagen und Motivation der Auswanderung nach Russland [1]
Vom späten 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg waren rund 20’000 Schweizer nach Russland ausgewandert. Zum Teil handelte es sich um Angehörige der ländlichen Unterschichten, die infolge der Knappheit an bebaubarem Land und der Arbeitsrationalisierung durch die aufkommende Textilindustrie keinen Erwerb mehr fanden. Russland rekrutierte seit der Kaiserin Katharina II. der Grossen (Regierungszeit 1782-1796) auch gezielt Fachleute in Zentral- und Westeuropa (in heutiger Terminologie: „Expats“), die die Modernisierungsbestrebungen des aufgeklärten absolutistischen Zarenreichs unterstützen sollten. Aus der Schweiz gelangten im Rahmen dieser Spezialistenmigration in einer ersten Welle etwa Offiziere, Beamte, Wissenschaftler, Ärzte, Architekten, Theologen und Zuckerbäcker nach Russland, in einer zweiten Welle ab Mitte des 19. Jahrhunderts dann Käser, Erzieher, Kaufleute und Industrielle. Bis zur Oktoberrevolution von 1917 entstanden insbesondere in den Regionen von Moskau, St. Petersburg und der Ukraine rund 300 schweizerische Firmen in der Maschinen-, Lebensmittel- und Textilindustrie. Schweizer Unternehmer und Händler wirkten in Russland vielfach als Träger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Modernisierung.
Für die schweizerische und damit auch die glarnerische Auswanderung nach Russland von besonderer Bedeutung war die Regierungszeit Zar Alexanders I. (Regierungszeit 1801-1825). Der Zar, ein Enkel der Kaiserin Katharina II. (Regierungszeit 1762-1796), wurde vom Waadtländer Frédéric de la Harpe (1754-1838) erzogen und behielt zeitlebens ein persönliches Interesse an der Schweiz. Unter ihm entstanden in den nördlichen Küstengebieten des Schwarzen und des Asowschen Meeres neue Kolonien deutscher und schweizerischer Einwanderer. Deren bekannteste war Zürichtal [2] auf der Krim. 1805 von Bauern und Handwerkern aus dem Knonauer Amt, den Kantonen Glarus, Luzern, Solothurn, Freiburg und aus der Waadt gegründet, zählte das Dorf elf Jahre später 190 Schweizerbürger, 137 Deutschstämmige oder Angehörige anderer Nationen. Zürichtal (heute Zolotoe Pole), vor dem Ersten Weltkrieg das angeblich schönste und reichste deutschsprachige Krimdorf, teilte 1941 das Los der wolgadeutschen Kolonien. So liess Stalin nach dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion alle deutschsprachigen Bewohner nach Sibirien und Zentralasien deportieren.
Noch sind wir aber nicht so weit. Nach Ende des Russisch-Türkischen Krieges wurde 1812 Bessarabien (die heutige Republik Moldau) zum Zarenreich geschlagen. Wie zuvor an der unteren Wolga verfolgte auch diesmal der Zarenhof die Sicherung des Gebietes mittels Ansiedlung vorab deutschsprachiger Siedler. 1822 gründete der aus Vevey stammende Botaniker Louis Vincent Tardent (1887-1836) mit einigen Waadtländer Weinbauern im äussersten Südosten Bessarabiens die Siedlung Schabo [3]. Im Laufe der Zeit gesellten sich nach und nach auch Deutschschweizer Familien aus dem Baselland sowie der aus Obstalden stammende Heinrich Zwicki (1794-), ein Angestellter Tardents. Das Weinbauerndorf gelangte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem gewissen Wohlstand, so dass gegen Ende des Jahrhunderts zwei Tochterkolonien und verschiedene Weiler gegründet wurden. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fiel Bessarabien an Rumänien, was den Siedlern mehr behagte. 1940 musste Rumänien jedoch dieses Gebiet an die Sowjetunion abtreten, und 1941 fiel Hitler in die Sowjetunion ein. Je nachdem, welche Truppen – deutsche, rumänische oder sowjetische – auf dem Vormarsch waren, flohen oder kehrten die Siedler erneut in ihr Dorf. Viele kehrten in ihre angestammten Bürger- und Wohnorte in der Schweiz zurück. Unter ihnen die Familie von Theodor Zwicki (1905-1983) und der Mathilde, geborene Spitzer (1905-1993). Nach sechsjähriger Odysee trafen sie zusammen mit weiteren Flüchtlingen in der Schweiz ein. Die ersten drei Monate verbrachten sie in einem Lager für Rückkehrer bei Vevey, bevor sie sich im September 1946 in ihrem angestammten Bürgerort Obstalden niederlassen konnten.
Innerhalb der schweizerisch-russischen Migrationsbewegungen nehmen die Käser, vorwiegend aus dem Kanton Bern und aus dem Kanton Glarus, eine Sonderstellung ein. Schon vor 1800 finden wir den ersten Glarner Käser in Russland. 1796 betrieb Wolfgang Jenny in Gatina, südlich von St. Petersburg, eine Käserei. Den Grundstein zur Glarner Auswanderung der Käser wie auch zu der für Glarus typischen Einzelauswanderung legte jedoch der Holzhändler Leonhard Weber (1766-1813). Nachdem er es im Holzhandel und später in der Textilindustrie zu einigem Wohlstand gebracht hatte, erwarb er bei St. Petersburg ein grösseres Landgut, auf dem er mit Angestellten aus Glarus eine Käserei betrieb [4]. Die Glarner Käser liessen sich vorwiegend in den Ostseeprovinzen und in Finnland, das bis 1918 zum Zarenreich gehörte, nieder. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann jedoch die Auswanderung von Käsern zu versiegen, da der Bedarf an Berufskäsern in Russland durch Nachkommen anderer Ausgewanderten gedeckt werden konnte. Der Beruf des Käsers wurde vorwiegend in der ersten Generation ausgeübt, während nachfolgende Generationen aus dem Verdienst des Käsemachens sich anderen Berufen zuwandten, ein Landgut kauften, eine Mühle betrieben oder ein Geschäft eröffneten.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ging auch die staatlich geförderte Ansiedlung westlicher Kolonisten zu Ende, da die Grenzsicherung gegen das Osmanische Reich nicht mehr im Vordergrund des russischen aussenpolitischen Interesses stand. Zweitens hatte sich die Ansiedlung als sehr kostspielig erwiesen, war doch den Kolonisten eine Reihe von Privilegien zugestanden worden. So waren beispielsweise bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 die Kolonisten von der Wehrpflicht befreit. Sie mussten während der ersten Jahre auch keine Steuern entrichten. Drittens hatte sich die Erwartung, dass die Bewirtschaftungsweise bei der einheimischen Bauernschaft Nachahmung finden würde, bald zerschlagen, denn die Siedler hatten sich kaum mit den russischen Bauern vermischt.
Der Krimkrieg von 1853-1856 und die daraus resultierende Niederlage des Zarenreiches machten dem Zarenhof bewusst, wie sehr die westlichen Mächte den Industrialisierungsprozess vorangetrieben hatten. In militärischer wie verkehrstechnischer Hinsicht (Bau von Strassen und Eisenbahnen) war Russland arg im Hintertreffen. Zar Alexander II. (Regierungszeit 1801-1825) führte mehrere grundlegende Reformen durch, wie die Abschaffung der Leibeigenschaft oder das Zugeständnis einer, wenn auch weiterhin beschränkten Selbstverwaltung für die Städte. Dadurch wurde das notwendige Potenzial an Arbeitskräften für eine umfassende Industrialisierung geschaffen. Dieser Prozess setzte im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten mit einigen Jahrzehnten Verspätung ein. Dieser zeitliche Rückstand hatte jedoch für die Neueinwanderer und Russland den Vorteil, dass das im Industrialisierungsprozess des Heimatlandes angeeignetes Wissen nun in Russland gewinnbringend eingesetzt werden konnte. Neben beruflichem Know-how waren auch finanzkräftige Investoren gefragt. Die Auswanderer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – darunter viele Glarner – waren folglich Handwerker aller Art, Händler und Kaufleute, die durch Vermittlung bereits früher Ausgewanderter vorerst ohne Familie nach Russland reisten. Sobald eine Anstellung gefunden war, liessen sie Frau und Kinder nachkommen. Im Gegensatz zu den Amerikaauswanderern behielten die meisten Russlandschweizer ihr Bürgerrecht. Hin und wieder kehrten sie in die Schweiz zurück, sei es um Geschäfte zu tätigen, weitere Auswanderungswillige anzuheuern oder um auf Brautschau zu gehen.
Wer es in Russland zu Vermögen gebracht hatte, kehrte in die Schweiz zurück, um in der Heimatgemeinde einen geruhsamen Lebensabend zu verbringen. Auswanderer, die in der Fremde ihr Glück gemacht hatten und nach ihrer Rückkehr in die Heimatgemeinde als Wohltäter auftreten konnten, lieferten der Bevölkerung stets willkommenen Gesprächsstoff. Von derartigen Erfolgsgeschichten darf man sich jedoch nicht blenden lassen, gab es doch auch unzählige Geschichten des Misserfolgs und Schicksale, die weitgehend unbekannt geblieben sind. Trotz grosser Anstrengungen fristete ein grosser Teil der Auswanderer ein hartes Dasein. Getrieben vom Wunsch nach einer besseren Existenz, hatten sie die Heimat verlassen, hatten einengende wirtschaftliche wie gesellschaftliche Normen, aber doch vertraute Strukturen aufgegeben in der Hoffnung auf einen Neuanfang in einem fremden Land. Das Schweizerische Generalkonsulat in St. Petersburg wurde immer wieder mit Auswanderern konfrontiert, die aufs Geratewohl eingereist waren, ohne über Adressen zu verfügen, an die sie sich unmittelbar nach der Ankunft hätten wenden können.
Nicht immer war die Verbesserung der Existenz das entscheidende Auswanderungsmotiv. Manch einer versuchte auf diese Weise einer unglücklichen Ehe zu entrinnen. Andere wiederum verschwanden für einige Zeit im fernen Russland, um so ihren Gläubigern zu entwischen.
Die Rückkehr der Russlandschweizer 1917-1945
Die in Russland lebenden Schweizer hatten aufgrund ihrer beruflichen Qualifikationen zu einem grossen Teil zur dortigen oberen Mittelschicht oder gar zur Oberschicht gehört. Die Oktoberrevolution von 1917 stellte deshalb für die Russlandschweizer eine massive Zäsur dar. Bis 1922 verliessen 6’000 oder rund drei Viertel von ihnen Russland. Zwischen 1918 und 1920 brachten fünf Repatriierungszüge jeweils 200 bis 600 Rückkehrer in die Schweiz zurück. Viele waren nicht nur durch die Enteignungsmassnahmen des neuen bolschewistischen Regimes mittellos geworden, sondern schon vorher durch die im Bürgerkrieg erfolgten Verwüstungen arg in Mitleidenschaft gezogen. In diesem Chaos kämpfte nicht nur die Rote Armee gegen die von Interventionstruppen Grossbritanniens, Frankreichs, der Vereinigten Staaten und Japans unterstützte Weisse Armee, sondern tobten sich auch autonome bäuerliche und anarchistische Einheiten, polnische Invasoren und deutsch-baltische Freikorps aus. Dieser grausame Bürgerkrieg zog sich bis 1922 hin und forderte Millionen von Menschenleben durch direkte Kampfhandlungen, den „roten“ und „weissen“ Terror, sowie Hungersnöte.
Im Mai 1918 gründeten die Rückkehrer als Selbsthilfeorganisation die „Vereinigung der Russlandschweizer“, die bis 1965 existieren sollte, und im Oktober 1918 entstand die halbstaatliche „Schweizerische Hilfs- und Kreditorengenossenschaft für Russland“ (Secrusse). Diese Russlandschweizer-Lobby trug dazu bei, die antikommunistische Grundstimmung in der Schweiz noch mehr anzufachen. Die Lage der in Russland Verbliebenen verschlechterte sich noch mehr, nachdem die Schweiz im November 1918, auch auf Druck der Siegermächte des Weltkriegs, die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion abgebrochen hatte. Die konsularischen Angelegenheiten der Russlandschweizer wurden nun vom Roten Kreuz wahrgenommen, dessen Delegierter in Moskau einen grossen Teil seiner Arbeitskraft für deren Unterstützung aufwandte aufwenden musste.
Nach und nach entvölkerten sich die Schweizerkolonien von Kiew, Charkow, Odessa und Tiflis. Ab 1937 erging an alle in Russland lebenden Ausländer ultimativ die Aufforderung, entweder das russische Bürgerrecht anzunehmen oder das Land zu verlassen. Diese Massnahme veranlasste wiederum viele zur Rückkehr in die Schweiz, obwohl sie in Russland bereits zu einem hohen Grad integriert waren. Als auch den Bauern im Süden Enteignung, Deportation oder gar Einkerkerung drohte, vermochten auch sie dem Druck nicht mehr standzuhalten. Oftmals zogen sie aber nicht in die Schweiz zurück. An grossräumige Verhältnisse gewöhnt, wanderten viele Familien nach Kanada oder Nordamerika aus.
Viele der 1918 zurückgereisten Glarner betrachteten den Aufenthalt in der Schweiz nur als kurzes Zwischenspiel. Sie waren überzeugt, dass die Bolschewiken von den Weissrussen, den Verfechtern des Zarentums, mit Hilfe der internationalen Intervention bald besiegt sein würden und sie erneut nach Russland zurückkehren und ihre Fabriken und Gutsbetriebe wieder in Besitz nehmen könnten. Das Zwischenspiel wurde aber zum Dauerzustand, und nicht wenige Russland-Glarner bekundeten grosse Mühe mit dieser Situation. Wer in Russland der Oberschicht angehörte und entsprechende Privilegien genossen hatte, mochte sich oft nur schwer mit einem eher bescheidenen Lebensstil und einer als gering erachteten Arbeit abfinden.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und nach Kriegsende kehrten nochmals eine grosse Anzahl Russlandschweizer in die Schweiz zurück. Viele Russland-Glarner liessen sich in Zürich nieder, da besonders jene, die in den Grossstädten Moskau und St. Petersburg gelebt hatten, sich in einer städtischen Umgebung wohler fühlten. In Zürich wirkte auch ein russisch-orthodoxer Geistlicher, was den Rückwanderern ermöglichte, ihre Religion auszuüben. Wer seit vier oder gar fünf Generationen in Russland gelebt hatte, tat sich begreiflicherweise schwer mit der schweizerischen Lebensart und der deutschen Sprache [5].
Glarner Unternehmungen im Zaristischen Russland
Was die Beeinflussung der russischen Volkswirtschaft in der Landwirtschaft wie auch im Handels- und Industriesektor anbelangt, so nahmen in der ersten Epoche unter den Schweizern die Glarner eine wichtige Stellung ein. Nachfolgend soll eine noch unvollständige und laufend noch zu ergänzende Übersicht über die von Glarnern in Russland betriebenen Unternehmungen gegeben werden.
Glarner Siedler in Bessarabien und auf der Krim
Nach dem der Einfluss des Osmanischen Reiches, nach dem Ende des Russisch-Osmanischen Krieges (1768 bis 1774) beseitigt wurde, konnten die neueroberten Gebiete am Schwarzen Meer durch ein umfassendes Erschließungsprogramm neu besiedelt werden. Unter der Leitung des Fürsten Potjomkin wurde das Gouvernement Neurußland geschaffen.
Als eines der ersten gegründeten Dörfer gilt das heutige Dorf Smijiwka im Südosten der Ukraine. Smijiwka stellt die Vereinigung der bis 1915 unabhängigen Dörfer Schlangendorf, Mühlhausendorf, Klosterdorf und Altschwedendorf dar. Alle vier Dörfer wurden zwischen 1782 und 1804 gegründet. Die Bewohner waren deutscher und schwedischer Herkunft. Zarin Katharina II. führte im Jahr 1781 ehemalige schwedische Leibeigene von der Ostseeinsel Dagö in die öde Steppe des westlichen Dnepr Ufers. In ihrer neuen Heimat sollten sie siedeln, Vieh züchten und Äcker bestellen.
Durch einen Ukas wurde Herzog Richelieu 1803 beauftragt in der Umgebung von Odessa Land zu erwerben und darauf deutsche Kolonien anzulegen. Die umgebende Steppenlandschaft ist eben und waldlos und wird von einigen Flüssen durchschnitten. So ließen sich am Nordufer des Schwarzes Meeres Anfang des 19. Jahrhunderts deutsche Auswanderer nieder.
Auch Schweizer Auswanderer zog es ostwärts ins russische Zarenreich. Eine der Schweizer Siedlungen ist Zürichtal (Solote Pole) auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim, welche im Jahr 1805 gegründet wurde. Seit Zar Peter dem Großen haben einige Schweizer in Russland ihre Spuren hinterlassen. Vorwiegend als Ingenieure, Kaufleute, Lehrer, Geistliche oder Wissenschaftler machten viele von ihnen eine beachtliche Karriere. Es wanderten aber auch ganze Gruppen verarmter Schweizer in das damalige Russland aus. Sie wollten der wirtschaftlichen Misere in der Heimat entgehen und im Zarenreich als Bauern eine neue Existenz aufbauen. Es waren vor allem Seiden- und Baumwollspinner, Weber und Bauern, die sich zur Auswanderung auf die Halbinsel Krim werben ließen. Sie litten unter der Wirtschaftskrise oder hatten Angst, Kriegsdienste leisten zu müssen.
Die rund 50 Gründerfamilien stammten fast ausschließlich aus der Deutschschweiz, die Mehrheit aus dem Kanton Zürich. Die beschwerliche Reise begann im Spätherbst 1803 unter der Leitung des Hauptwerbers Hans Caspar Escher. Die Fahrt mit Pferdewagen und Schiffen war lang und unterwegs verließ viele Auswanderer der Mut und sie kehrten wieder um in Richtung Heimat. Leider verstarben auch einige Menschen während der langen Reise, unter ihnen vor allem Kinder und Kranke. Im Sommer 1804 erreichten die Auswanderer die Halbinsel Krim. Außer aus dem Kanton Zürich, befanden sich unter ihnen auch Siedler der Kantone Aargau, Bern, Freiburg, Glarus, Graubünden, Luzern, Neuenburg und St. Gallen. Zunächst wurden die Auswanderer unter schlechten Bedingungen in der offenen Steppe angesiedelt, bis sie schließlich in ein bis dahin von Krimtataren bewohntes Dorf umsiedeln konnten. An dieser Stelle entstand am Bach des Indol das Schweizer Dorf, welches den Namen Zürichtal verliehen bekam.
Das neue Leben war anfangs von Schwierigkeiten geprägt. Die Weber und Spinner hatten kaum Erfahrungen in der Landwirtschaft vorzuweisen und die Bauern mussten sich zunächst an die veränderten Klima- und Bodenverhältnisse anpassen. Aber auch Krankheiten und Plagen verschonten das Dorf nicht. So starben dutzende Schweizer Auswanderer bereits in den Anfangsjahren. Nach und nach verbesserte sich allerdings die Situation. Weizenanbau, Viehzucht sowie später auch Obst- und Weinanbau brachten die langersehnten Erfolge. Am Bach entstand eine Mühle. Die Siedlung wuchs Jahr um Jahr und man konnte zusätzliches Land pachten. So wurden aus den einst verarmten ausgewanderten Bauern stolze und wohlhabende Großgrundbesitzer. Viele von ihnen beschäftigten russische Knechte und Mägde. Schon nach kurzer Zeit galt Zürichtal als die wohlhabendste und vornehmste Siedlung unter den deutschen Kolonien auf der Krim. Im Jahr 1820 wurde ein einfaches Gotteshaus gebaut, worauf hin zwei Jahre später der erste Pfarrer aus dem zürcherischen Schwerzenbach nach Zürichtal kam. 1860 wurde in der Mitte der Siedlung eine stattliche Kirche gebaut. Somit wurde Zürichtal zum Sitz der Propstei, das Kirchenspiel umfasste schließlich 36 Bauernkolonien und zudem noch die Städte Staryj Krym, Fedosija und Kerč (Kertsch).
Im selben Jahr wurde sieben Kilometer nordöstlich von Zürichtal, in der Steppe, das Dorf Neu-Zürichtal (Krasnohvardiiske) gegründet. In der folgenden Zeit entstand eine Vielzahl von Tochterkolonien, als Folge des wirtschaftlichen Wohlergehens und des Bevölkerungswachstums. 314 deutschsprachige Siedlungen gab es am Ende des Ersten Weltkrieges auf der Krim. Im Jahr 1918 lebten in Zürichtal rund 600 Menschen, viele von ihnen waren allerdings nicht mehr direkte Nachkommen von Schweizern, denn im Laufe der Jahre hatten sich auch zahlreiche deutsche Auswanderer, vor allem aus Schwaben in Zürichtal niedergelassen. Aus der Schweiz selbst ist kaum noch jemand gefolgt, was wohl auch an dem Umstand lag, dass Zürichtal vorwiegend von Kolonistendörfern mit Siedlern aus Baden, Württemberg und der Pfalz umgeben war. Das hatte auch Auswirkungen auf die Sprache. Es entstand ein schwäbisch-schweizerdeutsche Mischmundart. Das Bewusstsein der Herkunft ging immer mehr verloren, alle fühlten sich zusammen mit den Kolonisten der umliegenden Dörfer als Deutsche. So setzte auch konfessionell eine Vereinheitlichung ein. Die Katholiken zogen weg, um eigene Dörfer in der Steppe zu gründen. Die Reformierten Schweizer Kolonisten vereinigten sich mit den Lutheranern.
Ein interessanter Artikel des schweizerischen Nationalmuseums über die zwei Schweizer Dörfer Zürichtal und Chabo (Schabo) am Schwarzen Meer. Klicke hier um den Artikel aufzurufen.
Chabag (Schabo) eine Schweizer Kolonie in Bessarabien
Die Wienerhandlung und ihre Folgeunternehmungen in Russland (1750 – 1922) [6]
Die Gebrüder Johann Rudolf (1724-1790) und Gabriel Jenny (1726-1766) gründeten zusammen mit ihrem Schwager Balthasar Aebli (1725-1762) 1750 in Wien die Firma Jenny, Aebli & Co., berühmt als «Wienerhandlung». Dieses Handelshaus betrieb vorerst den Handel schweizerischer Textilprodukte nach Österreich, Polen und Russland und gründete etwas später eigene Fabriken in Schwanenstadt in Oberösterreich und Hohenelbe in Böhmen. Die Wienerhandlung florierte so erfolgreich, dass Niederlassungen in Warschau, Krakau, Lublin, Berdytschew, Lemberg und Riga eröffnet wurden. Durch die Teilungen Polens (1793, 1795) fielen diese Niederlassungen in russisches Gebiet. Die Napoleonischen Kriege (1792-1815) und die Kontinentalsperre (1806) erschütterten die Wienerhandlung schwer. Der darauffolgende österreichische Staatsbankrott von 1811 brachte die Inhaber der Firma Jenny, Aebli & Co. um den grössten Teil ihres Vermögens. In der Folge zogen die Inhaberfamilien Altmann und Oertli ihr Geld aus der Wienerhandlung zurück und kehrten nach Glarus zurück. Die Inhaberfamilie Jenny jedoch entwickelte sich nach zwei verschiedenen Richtungen:
Die Mitglieder des einen Zweiges von Johann Rudolf Jenny gaben das Schweizer Bürgerrecht auf und traten nach Konsolidierung der Vermögenslage in den Staats- und Heeresdienst der Habsburger Monarchie über, ohne ihren angestammten protestantischen Glauben aufzugeben. Sie erlangten zumeist einen Adelstitel und lieferten ihrem neuen Vaterland eine Anzahl tüchtiger Offiziere (z.B. Johann Karl von Jenny 1792-1865 und sein Sohn Heinrich von Jenny 1832-1896), hoher Beamter (z.B. Johann Jakob von Jenny 1801-), Ingenieure (z.B. August von Jenny 1842-1862) und Professoren.
Der andere Zweig, derjenigen von Gabriel Jenny, wandte sich nach der Konsolidierung des Familienvermögens in Österreich dem Osten zu. Was bisher Niederlassungen in im ehemaligen Polen und Russland gewesen waren, wurden nun zu Hauptsitzen des immer noch mächtigen Konzerns gemacht. Dieser Zweig, der die ehemalige Firma weiterführte, wirkte als Pionier beim wirtschaftlichen Aufschwung der neuen Südwestprovinzen des russischen Reiches mit. Der Sohn des Gründers Gabriel Jenny, Balthasar Jenny (1757-1812) wandte sich mit seinen drei Söhnen Gabriel (1785-1837), Johann Rudolf (1790-1848) und Johann Melchior (1798-1846) nach Südrussland (Berdytschew und Odessa). Sie wurden zu den Stammvätern der nachmals in Russland wirkenden Vertreter der Jenny-Familien.
Inzwischen hat sich die Wienerhandlung neben dem Textilhandel mit schweizerischen Leinwand- und Baumwollwaren auch auf den Grosshandel mit landwirtschaftlichen Produkten, Holz und Sprit ausgedehnt, und die in Odessa neu eröffnete Niederlassung exportierte Getreide, Wolle und Talg an die Häfen des Mittelmeers. Die Firma entwickelte sich immer mehr zu einem Grosshandelshaus für Landwirtschaftsprodukte und in zahlreichen eigenen Fabriken wurden diese Produkte gewinnbringend auch weiterverarbeitet. Der Geschäftsbereich der Gebrüder Jenny umspannte damals den ganzen Westen Russlands, von Riga und Warschau bis Odessa. Seit 1813 bestand in dieser aufblühenden Hafenstadt am Schwarzen Meer die Firma Jenny, Trümpy & Co., die besonders den Export pflegte und auch als Reederei auch eigene Segelschiffe unterhielt. Die Handelsflotte verschiffte besonders Weizen, Wolle, Häute und Talg nach Triest, Genua, Neapel, Marseille und den holländischen und englischen Häfen und führte von dort Eisen- und Kolonialwaren, aus Marseille Dachziegel und aus Messina Lavagestein für die Strassenpflästerung als Rückfracht ein. Ungefähr ab 1826/28 geriet die Zweigniederlassung in Odessa in Schwierigkeiten, teils infolge der Katastrophe von Berdytschew, teils durch den Verlust mehrerer grosser Segelschiffe, sowie Einbussen an anderen Ladungen aufgrund des damals eintretenden gewaltigen Preissturzes des Weizens.
Johann Jakob Trümpy-Morawek (1793-1823), Teilhaber der Wienerhandlung und dann Mitbegründer der Firma Jenny, Trümpy & Co., starb schon 1823 und hinterliess keine Söhne, wohl aber drei Töchter, welche sich in Odessa verheirateten. Sein Bruder Fridolin Trümpy (1799-1870) trat der Firma nicht bei, kehrte nach dem Tod seines Bruders nach Glarus zurück und rettete so einen guten Teil des von seinem Vater ererbten Vermögens. Zurück in Glarus liess er sich in keine geschäftlichen Verbindungen mehr ein und wurde 1834 zum letzten Landmajor (Vorsteher des Militärwesens) von der evangelischen Landsgemeinde gewählt. Seine Söhne hingegen beteiligten sich 1856/57 an der Gründung der Druckfabrik Trümpy & Jenny in Mitlödi.
An der Spitze des nach wie vor mächtigen Konzerns standen die drei Söhne Gabriel, Rudolf und Melchior. Gabriel heiratete 1811 seine Wiener Cousine Katharina von Jenny (1793-1858) und sein Bruder Johann Rudolf vermählte sich mit deren Schwester Henriette von Jenny (1795-1848). Johann Melchior heiratete 1823 in Odessa die Russin Katharina Morawek (1795-1845), Tochter des Maître d’Hôtel am russischen Hof, Leopold Morawek (1756-1808).
Die drei Brüder führten in grosser Eintracht gemeinsam die vielseitigen Geschäfte. Ihr Hauptsitz war die Stadt Berdytschew im Gouvernement Kiew. Sie führten dort das Leben grosser Magnaten und liessen ihren Kindern eine überaus sorgfältige und strenge Erziehung angedeihen, zumeist durch Lehrer und Gouvernanten, die sie aus der Schweiz kommen liessen. Dann aber trat das grosse Verhängnis ein, welches den angehäuften Reichtum zweier Generationen vernichten sollte. Das Ereignis begann mit dem Kauf der Stadt Berdytschew durch die Gebrüder Jenny. Diese betriebsame Stadt war eines der Handels- und Verkehrszentren Wolhyniens und der Kiewer Gegend und gehörte dem polnischen Fürsten Radziwi. Die Rechtslage zur Zeit des Stadtkaufs war jedoch von den Gebrüdern nur ungenügend geprüft worden. Der Verkäufer hatte unermessliche Schulden, welche den Käufern verheimlicht worden waren. Schon bald nach dem in den ersten 1820er Jahren abgeschlossenen Kaufs hagelte es Arreste, Einsprüche und Übergriffe der Gläubiger. Trotz jahrelangem Ringen um ihr Recht liess sich für die Gebrüder Jenny der Zusammenbruch nicht mehr aufhalten. Alle ihre Unternehmen wurden mit in den Abgrund gerissen. Erschwerend kamen die Schwierigkeiten hinzu, in die die Firma Jenny, Trümpy & Co in Odessa in den Jahren 1826 und 1828 geraten war. Die Gebrüder verloren bei diesem Ereignis ihr gesamtes Vermögen.
Gabriel und Johann Rudolf starben von Sorgen und Gram frühzeitig in Berdytschew. Johann Melchior zog nach Odessa, um aus den Trümmern des dortigen Unternehmens eine neue Grundlage für die Existenz seiner Angehörigen zu schaffen. Wenig mehr als zwei Jahrzehnte später begegnen wir bereits wieder den aufstrebenden Vertretern dieser Familie in verantwortungsvollen Positionen der Zuckerindustrie, als Pächter grosser Güter oder als Züchter von riesigen Merinoschafherden. Der zweitälteste Sohn von Melchior, Johann Friedrich Jenny-Scherff (1826-1902) wurde zu einem der grössten Zuckerfabrikanten und Pionier des Brauwesens in Odessa. Dadurch wurde er zum Wegbereiter seiner beiden Brüder Gabriel Jenny-Becker (1824-1899) und Heinrich Jenny-Pipp (1829-1904), die ihn tatkräftig unterstützten und Direktoren mehrerer Zuckerfabriken wurden. 1866 gründete Johann Friedrich Jenny-Scherff die erste Aktiengesellschaft auf dem Gebiet der Zuckergewinnung in Russland, die Kalnik AG. Es folgte 1870 die Gründung der Firma Jarapowitschi und 1872 die Fabrik Sob. Ferner gründete er die Kiewer Brauerei AG und erwarb in Odessa eine veraltete Brauerei, die sein Sohn Alexander unter der Firma F. Jenny & Co zu einer der grössten Brauereiunternehmungen Südrusslands ausbaute. Das Unternehmen existiert heute noch unter dem Namen «ennifoods». Johann Friedrich Jenny starb hochbetagt 1902 in Monte Carlo. Dass Russland durch die Revolution ins Wanken gebracht und in völligem Zusammensturz seine Nachkommen in die Tiefe reissen würde, konnte er nicht ahnen.
Die Nachkommen von Johann Rudolf vermochten sich nicht mehr von dem Zusammenbruch erholen. Sein Enkel Marjan Jenny (1884-) stand viele Jahre in Diensten seiner Cousins zuletzt als Direktor der diesen gehörenden Zuckerfabriken im Gouvernement Kiew. Ihm gelang die Flucht aus Russland nicht mehr und er starb in grossem Elend in Kiew.
Den Nachkommen von Gabriel war ein erfolgreiches Leben beschieden, wenn auch unter harten Bedingungen. Drei seiner Töchter wurden Lehrerinnen und die jüngste heiratete den Schweizer Konsul in Odessa, Otto Tritten. Sohn Fridolin Balthasar (1813-1859) lebte als Kaufmann und starb 1859 ledig in Odessa. Sohn Gabriel (1822-1882) trat in den Staatsdienst ein und starb ebenfalls ledig als russischer Kollegienrat. Der jüngste Sohn Fridolin (1825-1873) wurde Landwirt und beteiligte sich an dem Aufbau der damals aufblühenden Merino-Schafzucht und der später aufkommenden Getreideproduktion. Zur besten Zeit besass er 35'000 Schafe. Er heiratete die aus Bern stammende Lina Sophia Dick (1840-) und hatte mir ihr 5 Töchter und 2 Söhne. 1871 zog er mit seiner Familie zuerst nach Mentone und später nach Zürich, wo er 1873 starb. Der Betrieb wurde zuerst noch durch einen Verwalter geführt, wurde aber durch dessen Misswirtschaft fast in den Ruin geführt. Sein Sohn Gabriel Ernst Jenny (1872-1939) übernahm den Betrieb, und es gelang ihm, diesen wieder zum Erfolg zu bringen. Der Bolschewismus hat aber auch dieses Unternehmen zerschlagen, und so musste auch Gabriel Ernst wie seine Cousins aus Russland flüchten. Er wurde 1930 zum Professor an der landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim-Stuttgart gewählt. Neun Jahre später starb er 67-jährig kinderlos in Stuttgart.
Tischhändler Johannes Jenny (1645-1687)
Der erste urkundlich belegte Glarner Handelsmann in Russland dürfte Johannes Jenny (1645-1687) gewesen sein. Von ihm wird berichtet, dass er mit Schiefertischen nicht nur nach Moskau, sondern zu Schiff auch nach Archangelsk im Weissen Meer gefahren sein.
Handelsmann Markus Oertli (1739-1784)
Markus Oertli begab sich als Handelsmann nach Riga und starb dort 1784. Ebenso hat sein Sohn Bartholome (1775-1806) in Riga gewohnt und ist auch dort gestorben. Dessen Sohn Johann Melchior (1801-1852) kehrte 1823 nach Glarus zurück, erwarb die Liegenschaft «Rain», und baute es zu einem grossen Wohnhaus um, welches seine Erben 1863 verkauften. Mit seinem Sohn Johann Heinrich (1832-1864), welcher von 1855-1864 Pfarrer in Elm war, starb diese Familie im Mannesstamm aus.
Tischhandelsmann Johannes Becker (1691-1767), Fridolin Becker (1722-1797) und Kaspar Becker (1725-1791)
Tischhandelsmann Johannes Becker (1691-1767), welcher vielleicht schon Handelsverbindungen mit Russland angeknüpft hatte, hatte zwei Söhne, Handelsmann Fridolin (1722-1797), genannt «der Petersburger», und Schiffsmeister und Schatzvogt Kaspar (1725-1791), welche ein umfangreiches Geschäft von und nach Polen und Russland, und zwar meistens auf dem Wasserweg über Holland betrieben, und ihre Stapelplätze in Riga und Petersburg hatten. Sie handelten mit verschiedenen Waren, namentlich mit Korn, welches schon damals ein Hauptausfuhrartikel Russlands war. Nach dem Tode Kaspars erlitten sie durch den Untergang einiger Schiffsladungen in der Ostsee grosse Verluste, was sie bewog, das Geschäft mit Russland aufzugeben. Obwohl sich das Versicherungswesen für Verluste auf dem Meer sich in den europäischen Handelsstaaten schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts allmählich entwickelt hatte, scheint es, dass die beiden Brüder nicht versichert waren. In den 1820er Jahren kehrten Beckers aus Russland zurück. Ein Sohn von Fridolin Becker, Kaspar Becker-Becker (1760-1841), blieb dem Handel treu, wandte sich aber nach Brüssel und Gent.
Handelsmann und Pionier der Käserei in Russland Leonhard Weber (1766-1813)
Auch hier ging die Auswanderung, ähnlich wie bei der Wienerhandlung, von einem grossen Handelshaus aus, nämlich von der spätestens um 1700 gegründeten Holländer Holzhandlung Weber, Aebli & Cie. Die Weber stammten aus Netstal, die Aebli aus Mollis und Ennenda, und zu ihnen gesellte sich noch eine Familie Becker aus Ennenda, später genannt die «Holländer». Lange Zeit beschränkte sich der Verkehr dieser Gesellschaft auf Schifffahrt und Ausfuhren von Holzstämmen und Hartholzbrettern aus Glarus nach Holland. Fünf Brüder Weber gaben ab Ende der 1780er Jahre diesem Handel eine neue Richtung. Der zweitälteste, Leonhard Weber (1766-1813) fuhr mit einer Ladung Nussbaumholz von Amsterdam nach St. Petersburg, weil er gehört hatte, dass die russische Regierung solches Holz für Gewehrschäfte kaufte. Er blieb in St. Petersburg, dehnte seinen Handel auf andere schweizerische Erzeugnisse, wie Leinwand, Mousseline und Seidenbänder aus, wurde Handelsherr erster Gilde und liess in der Folge auch seine Kinder und Verwandten nach Russland kommen. So wurde er zum Pionier der grossen Auswanderung aus Netstal in das Zarenreich. Leonhard Weber pachtete oder kaufte um 1800 in der Nähe von St. Petersburg ein Landgut und liess einige junge Bauernsöhne von Netstal kommen, um hier die Käserei zu betreiben. Russische Edelleute, auf die Käseherstellung aufmerksam geworden, folgten bald seinem Beispiel. Durch seine Vermittlung liessen sie ebenfalls Netstaler Käsemacher auf ihre ausgedehnten Güter kommen und von da an, wanderten fast jedes Jahr eine grössere Anzahl junger Bauern nach Russland aus.
Russischer Kommerzienrat Johann Jakob Blumer (1749-1822)
Johann Jakob Blumer (1749-1822) verlor, als er 22 Jahre alt war, seinen Vater, und seine Mutter geriet mit 8 Kindern in eine Notlage. Daher entschloss er sich, einer Gruppe von Glarner Handelsleuten anzuschliessen, um in Russland Glarner Produkte zu verkaufen. Ab 1771 betrieb Johann Jakob Blumer einen erfolgreichen Handel vor allem mit Glarner Produkten (Schabziger, Dörrobst, seidene Wirkwaren), zuerst in St. Petersburg, dann in Moskau. Dort eröffnete er 1814 die erste mechanische Wollteppichweberei Russlands mit von ihm selbst entwickelten Webstühlen, wodurch er zu Reichtum und hohem Ruhm gelangte und von Zar Alexander I. zum Kommerzienrat ernannt wurde. Für seine in Glarus verbliebene Familie erwarb er die Alp Oberblegi und den oberen Teil des evangelischen Pfarrhauses in Schwanden. Dieses Eigentum vermachte er im Testament von 1818 seinen in Glarus wohnhaften Verwandten, die daraus eine Familienstiftung gründeten. Siehe dazu auch den Blog «Ein russischer Oberst erbt 1954 die Glarner Alp Oberblegi».
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[1] Peter Kubli Susanne: Netstal. Ein Industriedorf im Wandel. Netstal 2000. Sozialarchiv.ch Moskau retour.
[2] Vollmer Jürg: Die Krim-Schweizer von Zürichtal. Wie Schweizer Lumpenproletarier die Krim-Halbinsel erblühen liessen. Watson 2020.
[3] Zwicky Vladimir: Aufstieg und Niedergang der Schweizer Kolonien in der Ukraine. Saporoshje 2013.
[4] Tschudi Gisela: Schweizer Käser im Zarenreich. Zur Mentalität und Wirtschaft ausgewanderter Bauernsöhne und Bauerntöchter. Dissertation Zürich 1990.
[5] Als Beispiele seien hier erwähnt: Jost Kubli (1775-1843) und seine Frau Amalie, geborene Weber. Sie waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Russland ausgewandert und hatten sich in der Nähe von St. Petersburg, auf dem Gut Marienhof, niedergelassen. 1920 trafen ihre Urenkel Fridolin, Nikolaus, Waldemar und Heinrich in der Schweiz ein. Ähnliches gilt für Johann Peter Stauffacher (1801-1854). 1828 wanderte er zusammen mit seiner Frau Anna, geborene Kubli, nach Riga aus. 1923 kehrten die drei Urenkelinnen Virginie, Eugenie und Eleonora in ihre angestammte Heimat zurück.
[6] Jenny Ernst/Jenny Adolf: Alt-Russland und die Russland-Glarner in Zeitungsartikeln beleuchtet. Glarus 1932; Jenny Adolf: Bilder von dem Leben und Streben der Russland-Schweizer und dem traurigen Ende ihrer Wirksamkeit. Glarus 1934.