Im klassischen Stammbaum haben sich Familien so verewigt, wie sie sich sehen wollten, Jetzt steht er vor dem Aus. Wegen Migration, Änderungen im Namensrecht oder Adoptionen taugen seine Ordnungsprinzipien nicht mehr.
Der Mann mit dem zeitlosen Kurzhaarschnitt ist zuständig für die Pflege des Stammbaums seiner altehrwürdigen Berner Familie. Sterben Angehörige und kommen neue zur Welt, ergänzt der Informatiker die digitalen Familientafeln. Kürzlich suchte er in einer Datenbank nach unbekannten Verwandten. Was daraufhin passiert ist, vergisst er nicht so schnell: Der Stammbaum sei förmlich explodiert, erzählt er, so zahlreich habe die Datenbank neue Personen angefügt. Einen ganzen Nachmittag habe er gebraucht, um den Baum "zu putzen".
Dieses Beispiel ist keine Ausnahme: Dem klassischen Familienstammbaum schlägt die letzte Stunde. In online-Datenbanken wie Familysearch und über Facebook suchen und finden heute Genealogien und Genealogen immer neue Familienangehörige, die sie in wachsenden Listen eintragen. Auf der Plattform Gedmatch identifizieren sie weit entfernte Verwandte sogar mittels DNA Proben. Und auf Ancestry hofft selbst der genealogisch unerfahrene Forscher, seine genetischen Wurzeln bestimmen zu können - also aus welcher Weltgegend und von welcher Population er stammt, ob er keltische, germanische oder jüdische Vorfahren hat oder zu welchem Anteil er indianischer Herkunft ist.
Die Familienforschung stösst in weingefächerten Verwandtschaften und mobile Völkergeschichten vor. Sie verrotte den Einzelnen in einem ins Unendliche wachsenden Gefüge, wobei das 16. Jahrhundert eine schwer überwindbare Schwelle bildet, weil aus der Zeit davor keine Kirchenbücher vorliegen, die Taufen und Heiraten dokumentieren. Auch rechnerisch stösst man an Grenzen: Wer heute lebt, müsste um das Jahr 1000, etwa 40 Generationen zurückgerechnet, Milliarden von Vorfahrinnen und Vorfahren gehabt haben, also weitaus mehr, als damals Menschen lebten. In der Realität hatten aber auch Verwandte Kinder miteinander, was die Zahl der echten Ahnen reduziert. Trotzdem wird diese schnell unüberschaubar.
Teil der Menschheitsfamilie
Die neuen Datenbanken erschüttern die traditionelle Genealogie. Sie drehen diese ins Gegenteil dessen, was sie jahrhundertelang war. Betrieb sie früher den Ausschluss unliebsamer Verwandter und die Sicherung von Besitz und Herrschaft, führt sie heute im Zeitalter von Patchworkfamilien und Fortpflanzungsmedizin zur Integration. Der Einzelne wird Teil der grossen Menschheitsfamilie. Mit seinen digital gefütterten Auswüchsen verliert der Stammbaum an Bedeutung. Noch im 19. Jahrhundert konsolidierte sie die lokalen Familienidentitäten. Damals zeichneten selbst einfache bürgerliche Familien kunstvoll bemalte Stammbäume, nicht nur die der Tschudi, der Stüssi und von Graffenried. Besonders beeindruckend sind jedoch ihre Kopien. So ruhen im Staatsarchiv Basel die bis zu neun Quadratmeter grossen Pläne der "Daig"-Familien (lokale Großfamilien) sauber gefaltet in Schubladen.
Der Stammbaum und die mit ihm verwandten Ahnentafeln folgen den Prinzipien von Patrilinearität und Primogenitur: Aus dem dicken Stamm, der den Namen des Urvaters trägt, wachsen seitlich und nach oben sich verjüngende Äste und Zweige mit vielen Nachfahren. Verzeichnet sind nur die männlichen Nachkommen des ersten Ehepaars, und die Erstgeborenen erden jeweils zuerst aufgeführt. Man kann den Stammbaum als phallische Metapher lesen, welche die Weitergabe des männlichen Samens versinnbildlicht. Die Herkunft der in die Familie aufgenommenen Frauen, wenn diese überhaupt auftauchen, bleibt unsichtbar. Unsichtbar bleiben auch aussereheliche, abtrünnige, missratene Nachkommen, über die man lieber schweigt, nachdem man über ihre Skandale getuschelt hat.
Der traditionelle Stammbaum spiegelte nicht die Realität der Familie wider. Vielmehr wollte er Realität schaffen. Er machte mit den väterlichen Namens- und Blutlinien patriarchale Ordnungspolitik, indem er die männliche Herrschaft und ihre Erb- und Nachfolge regelte. Dieser Stammbaum betrieb Geschichtsklitterung. Er rückte die Familie ins beste Licht nach dem Prinzip: Wir sind ein besonders vorbildliches Geschlecht, dem kontinuierlich erfolgreiche Nachkommen entspriessen, die allesamt von vorbildlichen Vorfahren abstammen.
Man schlechte nicht einmal in der republikanischen, nahezu adelsfreien Schweiz davor zurück, sich mit ritterlichen Helmbüschen geschmückte Familienwappen und adlige Uhrahnen zuzulegen, die im Mittelalter von einem König nobilitiert worden seien - oder gar von diesem abstammen sollten. So floss also noch in den Adern des einfachen Bürgers, dessen Vorfahren Handwerker und Bäuerinnen waren, blaues Blut: wie edel.
Ein Gedankenspiel zeigt, wie willkürlich diese Art von Genealogie war: Würde man ausgehend vom - letztlich beliebig gesetzten - Ur-Paar einer Familie, mit dem diese ihren jahrhundertealten Ursprung begründet, nicht den männlichen, sondern konsequent den weiblichen Nachkommen folgen, entstünde ein völlig neuer Familienbaum. Die Zusammensetzung der Familie wäre eine andere. Und würde man auch die Unehelichen und deren Nachkommen getreu dem Blutsprinzip aufführen, wüchse der Baum bald schon wild weiter.
Der gutbürgerliche Stammbaum entwirft die ideale, gesunde Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Umso schöner glänzt er vor seinem Gegenstück, das natürlich ohne floralen Schmuck auskommen muss: Um 1900 zeichnen Psychiater akribischGenealogien der Degeneration auf, die den Volkskörper bedrohen. Berühmt ist die Darstellung einer jenischen Familie (die sogenannte Familie Zero), die ihre Kriminalität und Promiskuität, ihren Alkoholismus und ihre Armut von Generation zu Generation weitergibt.
Schuld daran, so waren die Wissenschafter überzeugt, seien die moralische Verkommenheit und das minderwertige Erbgut der Vorfahren. Das Heilmittel dagegen: Man müsse die Fortpflanzung stoppen, den Baum fällen. Der Nationalstaat entwickelte dafür eugenische Techniken: Heiratsverbote, Sterilisationen, Familienauflösungen. Anstelle des entrechteten Mannes trat der Amtsvormund, der die Frauen und Kinder unter seine Fittiche nahm.
Die Grundlage des traditionellen Stammbaums bilden Vater-Sohn-Verbindungen. Das Motiv taucht schon in der Bibel auf. Im Mittelalter stellte der Jessebaum die Abstammung Christi von König David und dessen Vater Jesse dar. Etabliert wurde der Stammbaum im 15. Jahrhundert vom Adel. Allerdings betrieb dieser zunächst keinen Clan- und Abstammungskult, sondern wollte Verwandtschaft vermeiden, um nicht unter das Inzestverbot der Kirche zu fallen: Heiraten mit Abkömmlingen gemeinsamer Ahnen, die sieben Generationen zurückreichten, waren verboten. Die Verwandtschaftsdiagramme des Adels rückten daher rechtmässige Zweierbeziehungen ins Zentrum, keine grossartigen Genealogien.
Ehe wird zum heiligen Prinzip
Zu Beginn waren die Frauen noch präsent. Überliefert sind gemalte Baumblüten, in denen ein Mann und zwei Frauen stehen - die nachfolgenden zwei Gattinnen -, und sogar Matriarchinnenbäume mit Strängen, die aus dem Bauch und den Brüsten der Mutter wachsen. Im Mittelalter und besonders im Adel hatte zumindest die vermögende Frau eine stärkere Stellung inne als in der bürgerlichen Moderne. "Familie" umfasste mehr und vielfältigere Verbindungen zwischen Menschen als nur das verheiratete Paar und seine direkten Nachkommen. Die Reformation erklärte dann die Ehe zum heiligen Prinzip, dem sich alle Menschen unterzuordnen hätten, und dem Mann zum Familienoberhaupt.
Jetzt steht der Stammbaum also vor dem Aus. Er kann die sich wandelnden Familienformen, die er eine Weile erfolgreich ausgeblendet hat, nicht mehr bewältigen. Nur schon die Änderungen im Namensrecht sägen an seinen Wurzeln, wenn also der Mann den Namen der Frau annimmt oder die Söhne jenen der Mutter statt des Vaters. Dazu kommen Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Eltern, Leihmutterschaft, Adoptionen, Transsexualität: Das alles ist für den Stammbaum viel zu viel. Weder das Blut noch der Name taugen mehr als Ordnungsprinzipien.
Zudem ist der Familien- und völkerverbindende Enthusiasmus der Ahnenforscher grenzenlos. Mit der populationsgenetischen Wende greifen sie weit in die Menschheitsgeschichte aus, die damit zur Migrationsgeschichte wird. Die Familienforscher stehen vor der Wahl: Entweder führen sie den Stammbaum nach den alten patrilinearen Prinzipien weiter und entfernen sich damit noch weiter von den familiären Realitäten, oder sie öffnen ihn für die neuen Familienformen und verlieren damit die Übersicht. Auf die Dauer wird der Stammbaum die Menschen nicht überleben. Das macht sie ein bisschen freier. Konsequenterweise müssten die Genealogen von heute bei den Menschenaffen landen: die Äffin als erste Ahnin statt des Adligen. Endlich wird Familiengesichte menschlich.
Quelle: NZZ am Sonntag, 30.Juni 2019, Urs Hafner
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